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Biografie – Impulse für eine erfolgreiche Altenpflege

Die drei wichtigsten Punkte sind:

  1. Die persönliche Lebensgeschichte und ihre Bedeutung
  2. Sozialhistorische und individuelle Einflüsse
  3. Erhebung einer Lebensgeschichte und ihre Relevanz in der Pflegepraxis

Die persönliche Lebensgeschichte und ihre Bedeutung

Im Umgang mit alten Menschen ist die Lebensgeschichte immer von größter Bedeutung. Alle Erfahrungen, die angenehmen wie die unangenehmen, haben ihre Spuren in Persönlichkeit und Charakter hinterlassen. Sie haben dazu geführt, dass der alt gewordene Mensch so geworden ist, wie er jetzt ist, mit all seinen Sonnen- und Schattenseiten.

Lebensgeschichten sind also immer Freud- und Leidgeschichten, und beides hat in der Erinnerung der Person einen gefühlsmäßigen Stellenwert.

Alte Menschen sprechen in der Regel gerne darüber, wie es früher einmal war, daher brauchen sie interessierte Zuhörer. Ein wichtiges Faktum ist, dass die Lebenszeit, die sie noch vor sich haben, wesentlich kürzer ist als die Zeit, die schon vergangen ist. Die erzählten Geschichten, entsprechen nicht immer den Tatsachen. Manches wird in der Erinnerung verklärt, verändert und gelegentlich auch schöner dargestellt als es vielleicht gewesen ist. In seinem Wissen darüber hat auch J. W. von Goethe schon sein autobiografisches Werk: „Aus meinem Leben – Dichtung und Wahrheit“ genannt.

Nicht alle Menschen sprechen gerne über die Vergangenheit, vor allem dann nicht, wenn sie von vielen schmerzhaften Erlebnissen geprägt war. In solchen Fällen liegt es dann an uns, ihnen verständnisvoll zu begegnen.

 V. Frankl, der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse mahnt schon: „Der Mensch sieht meistens nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit, aber er übersieht die vollen Scheunen der Vergangenheit; er übersieht, was er alles ins Vergangene hinein gerettet hat, wo es nicht unwiederbringlich verloren ist, sondern unverlierbar geborgen bleibt“.

V. Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Piper Verlag,8.Aufl.,1990, S.106

Niemand kann den Menschen nehmen, was nur sie, so erleben konnten, wie sie es erlebt haben. Im hohen Alter hat man schon Bilanz gezogen oder tut es vielleicht noch. Dinge, die man zu bestimmten Lebenszeiten nicht gesagt oder getan hat, können tiefes Bedauern hervorrufen. Gelegentlich können sie auch Trauer und Tränen auslösen. Dann sind wir als Betreuer und Pflegende wieder gefragt, sie so zu nehmen, wie sie sind, den so geäußerten Schmerz auszuhalten und sie mit ihren Gefühlen anzunehmen.

Sozialhistorische und individuelle Einflüsse

a) Sozialhistorische Einflüsse

Wenn wir von anlagebedingten Voraussetzungen absehen, wird jeder Mensch in eine Familie und in eine Zeit hineingeboren. Das bedeutet, dass er sowohl von der familiären Atmosphäre, in der er aufgewachsen ist, als auch vom Zeitgeist geprägt wird. Sozialhistorische Einflüsse ergeben sich beispielsweise aus der Gesellschaftsschicht, in der die Eltern oder die Erziehenden leben. Diese wiederum hat Einfluss auf ihre Alltagsgewohnheiten wie auch auf ihre finanzielle Situation. Ein Bauernkind findet andere Verhältnisse vor als ein Kind aus einer bürgerlichen Familie oder ein Arbeiterkind. Das gelebte Rollenbild von Frauen und Männern bzw. Mädchen und Jungen wirkt ebenso prägend wie gesellschaftliche Werte, Normen und Regeln.

Mit der finanziellen Situation der Eltern, ist oft auch schon der Beruf, den ein Kind einmal erlernen wird, vorgegeben. Von einem Bauernsohn wurde sehr wahrscheinlich erwartet, dass er sich in der Landwirtschaft engagiert, um später einmal den elterlichen Hof zu übernehmen. Ein bürgerliches Mädchen hatte vielleicht mit dem elterlichen Druck zu kämpfen, standesgemäß heiraten zu müssen.

Vergleicht man diese Beispiele miteinander wird schnell klar, dass es verschiedene Rollenerwartung von Seiten der Eltern gab, die man so oder so zu erfüllen hatte. In Armut oder Wohlstand sein Dasein zu fristen, war in Zeiten kriegs- und nachkriegsbedingter politischer und ökonomischer Not nicht ein und dasselbe. Allesamt aber hatten prägenden Einfluss auf das, was damals normal war oder als normal galt.

b) Individuelle Einflüsse

Zu den sozialhistorischen Einflüssen gesellen sich auch die individuellen Einflüsse wie z. B. ehelich bzw. unehelich geboren, Einzelkind oder Geschwister, wer war über lange Zeit eine wichtige Bezugsperson bzw. wer war federführend in der Erziehung?

Welche Schulbildung war möglich, welcher Beruf wurde angestrebt, und welcher Beruf wurde schließlich erlernt und ausgeübt?

Welche Rolle spielte die Gemeinschaft, welche die Gesellschaft, aber auch welche Freizeitbeschäftigungen gab es, wenn überhaupt? 

Welche Träume sind durch die verschiedensten Lebensumstände verloren gegangen bzw. aufgegeben worden?

Erhebung einer Lebensgeschichte und ihre Relevanz in der Pflegepraxis

Kenntnisse der Lebensgeschichte sind im Umgang mit alten Menschen, die Grundlage jeder professionellen Arbeit. Mancherorts wird im Pflegealltag immer noch Zeitmangel als Argument für die Begründung angeführt, warum diese Art von Arbeit nicht geleistet wird. Dabei gibt es einfache Methoden, wie diese Arbeit, trotz Zeitdruck, getan werden könnte. Wie wir sowohl aus dem intra- als auch dem extramuralen Bereich der Pflegepraxis wissen, ist es nur einen Frage des Setzens von Prioritäten.

In Pflegeeinrichtungen, in denen der alte Mensch nicht als Störfaktor im routinemäßigen Tagesablauf gesehen wird, sondern wo er mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt der Bemühungen des Pflegeteams steht, sind die Erfolge deutlich spürbar und sichtbar. Erfreulicherweise nimmt die Zahl jener Einrichtungen, die sich an der Würde des alten Menschen orientieren, zu.

Tabellarisch aufgeführte Daten und Fakten, wie wir sie für einen chronologischen Lebenslauf (wie z.B. im Falle einer beruflichen Bewerbung) aufzeichnen, werden vor jeder Aufnahme eines alten Menschen in eine Einrichtung erstellt. Die Wichtigkeit dieser Zahlen und Daten steht außer Frage. Dennoch fehlt diesen Fakten das emotionale Erleben, das den dazugehörigen Mensch ausmacht.

Prof. h. c. Erwin Böhm hat daher erzählte Geschichten, die allesamt individuell und daher von Mensch zu Mensch verschieden sind, zum Herzstück seines Pflegemodells gemacht. (Die Betonung liegt dabei auf vom alten Menschen selbst erzählt.) Die Erhebung einer Lebensgeschichte ist keine Aufgabe, die an einem Tag erledigt werden kann, sondern ein Prozess, der bis zum Ende der Betreuungszeit des Betagten andauert. Erzählte Geschichten sind immer emotionale gefärbt. Um jemandem Gefühle anzuvertrauen, bedarf es einer Vertrauensbasis. Dieses Vertrauen muss sehr hoch eingeschätzten werden. Wenn es nicht gelingt, Vertrauen herzustellen, kann der Grundstein für Misstrauen bestehend aus Angst, Aggression und Gewalt gelegt werden, und das auf beiden Seiten.

Das Sammeln erzählter Geschichten ist demnach die pflegerische Arbeit, die auf diesem Gebiet zu erbringen ist. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass es Zeiten, Tage und Stunden geben wird, in denen nichts erzählt wird. Das sollte aber niemanden davon abhalten, den Betagten mit wacher, bewusster Aufmerksamkeit zu begegnen. Das Ziel ist es, diese Geschichten, im Laufe der Zeit, zu den tabellarische angeführten Daten und Fakten hinzuzufügen, wodurch ein Miteinander des Pflegteams ermöglicht wird.

Die Relevanz dieser Geschichten für die praktische pflegerische Tätigkeit soll in einem Beispiel veranschaulicht werden.

Frau B. erzählt zum wiederholten Mal:

Ich habe mit 40 Jahren meinen Mann verloren und habe beide Söhne studieren lassen. Der Professor hat gesagt, ich könnte ein Stipendium für sie bekommen. Da hab ich gesagt: „Nein, Herr Professor, wir nehmen kein Stipendium, die Buben werden schon lernen“. Und ich hab beide Buben studieren lassen, mit der halben Pension.

Diese Geschichte, ob wahr oder unwahr, ist wichtig. Sie könnte an Tagen, an denen es Frau B. nicht so gut geht, sie traurig ist oder deprimiert wirkt, folgende Anwendung finden:

Frau B. wie haben Sie das geschafft, zwei Buben studieren zu lassen, mit der halben Pension? Ich habe nur einen Sohn und weiß nicht, wie ich das schaffen soll?

Die Folge könnte sein, dass Sie eine Menge Tipps erhalten, von jemandem, der es ja weiß.

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass Frau B. sich als Expertin, für Lebensfragen positionieren kann. Sie erzählt, wie sie es trotz widriger Umstände geschafft hat, ihren Söhnen das Studium zu ermöglichen. Das erhöht, zumindest für diesen Augenblick, ihr Selbstwertgefühl. Sie kann sich angenommen, respektiert und bewundert fühlen, für eine Leistung in ihren Leben, auf die sie stolz ist.

Wer in seinem Selbstwertgefühl stabil ist, hat Freude erfahren und Anerkennung, dann gehen auch die alltäglichen Dinge, die sonst vielleicht eher beschwerlich sind, leichter.

Fragen zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls sind nicht allgemein anwendbar und können nicht beliebig eingesetzt werden. Jeder Betagte hat Anspruch auf die Erhebung seiner persönlichen Geschichte.

Ingrid Bruckler, die Autorin dieser Artikels, ist Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege mit Schwerpunkt auf Demenz- und Palliativpflege.

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