Die Ansichten im nachfolgende Essay repräsentieren ausschließlich die Meinung des Autors
Worum geht es?
Der vorliegende Essay ist eine Standortbestimmung, die schwierig ist, zunächst weil unsere jeweilige Ernährung bzw. Essgewohnheiten durch (Vor)Urteile aus unserer Kindheit und Sozialisationsprozesse gesteuert werden, aber auch, weil massive wirtschaftliche Interessen bzw. Werbung uns einreden wollen, dass tierische Lebensmittel unverzichtbar und unserer Gesundheit zuträglich seien. In einem Werbespot radelt ein Radfahrer mühelos den Berg hinauf und allen anderen davon. „Fleisch bringt’s“ ist die Werbebotschaft unter Hinweis auf das AMA-Gütesiegel. Historisch gesehen war im Mittelalter die Jagd und somit der Fleischkonsum nur dem Adel vorbehalten, der Bauer bekam vorwiegend Getreidebrei2 zu essen. So wurde Fleischkonsum ein Symbol für Macht, Männlichkeit und Status.
Soziologen sind vom „gender-doing“ überzeugt. Männer essen demnach Fleisch, um zu zeigen, dass sie Männer sind. „So lernen Jungs von klein auf, dass Fleisch groß und stark macht“, sagt die Ernährungswissenschaftlerin Christine Brombach von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und folgert daraus, dass unser Essverhalten sozial konstruiert ist3.
Das Paläoargument und das Omnivoren Dilemma4
Tatsache ist, dass der Homo sapiens ein Omnivore (Allesfresser) ist. Dafür sprechen die Gestaltung des Gebisses, die Anatomie des Verdauungstraktes sowie der Umstand, dass sich Menschen von beinahe jedem Nahrungsmittel ernähren können. Nahrungsmittel waren in der Steinzeit rar und es wurde verzehrt, was irgendwie erreichbar war, natürlich auch Fleisch oder Eier. Insofern war das Omnivorentum sinnvoll und überlebenswichtig, weil Hunger eine Gefahr war. Die Omnivoren-Eigenschaft des Homo sapiens ist wissenschaftlich unbestritten, ändert aber nichts an der Frage, welche Art von Lebensmitteln unserer Gesundheit mehr oder weniger zuträglich sind, wenn man nicht in einem System der Nahrungsknappheit und möglicher Unterernährung lebt, was derzeit für die meisten Bürger Österreichs nicht der Fall ist.
Fakt ist auch, dass sich der Australopithecus von Früchten, Samen, Pilzen, Wurzeln, Blättern, Eiern und kleinen Tieren, also überwiegend vegetarisch, ernährte. Die Kost des zeitlich folgenden Homo habilis war ähnlich, ebenfalls mit geringem Fleischanteil. Der Homo erectus war dann in der Lage, die Pflanzennahrung durch Jagdbeute zu ergänzen5.
Die sog. Steinzeiternährung bzw. Paläodiät hingegen ist eine Modediät, die von Loren Cordain6 erfunden wurde und nicht der tatsächlichen Ernährung in der Jungsteinzeit entsprach.
Das Omnivoren Dilemma besteht definitionsgemäß nicht in der Wahl zwischen pflanzlichem oder tierischem Lebensmittel, sondern ist laut dem Originalzitat die folgende Problemstellung. „Der Segen des Allesfressers ist, dass er sehr viele verschiedene Dinge in der Natur essen kann. Der Fluch des Allesfressers ist, dass er, wenn es darum geht, herauszufinden, welche von diesen Dingen unbedenklich gegessen werden können, mehr oder weniger auf sich allein gestellt ist.“7
Früher in der Menschheitsgeschichte ging es darum, die Essbarkeit von Bärlauch und Maiglöckchen zu unterscheiden8, heutzutage geht es darum, ob Fastfood gesundheitlich bekömmlicher ist als ein selbstgekochter Gemüseeintopf. Das Problem wurde ungleich komplizierter, weil Fastfood mit ökologischen Folgekosten wie Massentierhaltung, Monokulturen, Gebrauch von HFCS9 etc. assoziiert ist. Alles Gebiete, die für einzelne oft unüberschaubar und unsichtbar sind, während der steinzeitliche Mensch ein rasches Feedback bekam, weil er beim Genuss toxischer Substanzen erbrach bzw. erkrankte oder verstarb.
Es ist auch richtig, dass bestimmte Verhaltensmuster der Steinzeit mehr die Gesundheit förderten als unser heutiger Lebensstil, wie z.B. mehr Bewegung zu Fuß, früheres Schlafengehen etc. Neu zu hinterfragen ist das Argument, warum die Ernährung wieder „steinzeitlich“ gestaltet werden sollte (das „Paläoargument“), unter folgendem Gesichtspunkt. Warum gestaltet man nicht auch andere Bereiche steinzeitlich? Wie zum Beispiel Fußmarsch anstelle von Auto oder Bahn oder Verzicht auf elektrisches Licht und auf Mobiltelefone, was zweifellos unseren Schlaf verbessern würde? Ernährung kann und wurde jeweils der historischen Situation und den jeweiligen technischen Möglichkeiten angepasst bzw. verändert.
Die Definitionen von Vegetarismus und Veganismus
Vegetarismus bedeutet keine Lebewesen zu essen, also im Wesentlichen keine Landtiere und Fische. Hingegen werden tierische Produkte konsumiert (z.B. Milch, Eier, Honig).
Veganismus beinhaltet zusätzlich den Verzicht auf tierische Produkte im engeren Sinne, wie z.B. Eier, Milch und Honig. Ein Teil der Veganer verzichtet sogar auf jene tierische Produkte, die nicht der Ernährung dienen, wie Wollpullover oder Artikel aus Leder.
Vorkommen: Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2017 ernähren sich in Österreich 6 % der Bevölkerung vegetarisch oder vegan; weitere 15 % tun dies zumindest zeitweise (sog. Flexitarier). Andere Hochrechnungen kommen für das gleiche Jahr auf etwa 80.000 Veganer, 765.000 Vegetarier und 2,3 Millionen Flexitarier. Österreich gehört zu den Top 10 Ländern mit dem höchsten Bevölkerungsanteil von Vegetariern. Mit Blick auf die soziodemografischen Merkmale sind Vegetarier und Veganer in Österreich oftmals weiblich, jung und gut gebildet10.
Gesundheitliche Argumente
Fleisch ist karzinogen. Die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC), eine Einrichtung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), stuft den Verzehr von rotem Fleisch in einer neuen Monografie als wahrscheinlich karzinogen für den Menschen (Gruppe 2A) ein. Fleischwaren werden sogar als Gruppe 1-Karzinogen (qualitativ, aber nicht quantitativ) in die gleiche Kategorie wie Tabakrauchen eingestuft. Das Team um Kurt Straif, Leiter der Sektion Monografien bei der IARC, begründet die Einstufung mit einer Analyse von mehr als 800 Studien, die nach möglichen Verbindungen zwischen dem Verzehr von rotem Fleisch oder verarbeitetem Fleisch und unterschiedlichen Krebserkrankungen gesucht haben11. Diese Einschätzung wurde im Jahr 2015 getroffen.
Generell sind Fleisch und Fisch ungleich höher bakteriell belastet als Gemüse und Obst.
Das gilt für tierische Produkte, wie beispielweise Salmonellen in Hühnereiern und Hühnerfleisch (sog. weißes Fleisch).
Fisch wiederum ist schwermetallbelastet, insbesondere größere Fische wie Tunfisch. Warum ist das so?
Über die Nahrungskette (Miteinander über die Nahrung in Verbindung stehende Organismen)
kommt es zur Biomagnifikation12, d.h. der Aufkonzentrierung von persistenten organischen Schadstoffen (langlebig und kaum ersetzbar). Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Fischkonsum aufgrund der Omega-3-Fettsäuren (EPA und DHA) gesundheitsfördernd sein kann.
5 am Tag (3 Portionen Gemüse und 2 Portionen Obst) ist als Regel einer gesunden Ernährung im Gegensatz zu anderen Themenbereichen, wie z.B. Low Fat versus Low Carb, unumstritten und durch Evidenz abgesichert13. Eine Empfehlung der WHO besagt, dass der Verzehr von täglich 400 Gramm Obst und Gemüse ein geeigneter Wert sei. Bei einer typischen Portionsgröße von 80 Gramm sind dies fünf Portionen am Tag. Laut einer Gesundheitsbefragung 2019 von Statistik Austria schaffen es nur 4 % der Männer und 7,1 % der Frauen, auf die fünf empfohlenen Portionen pro Tag zu kommen.14 Augenscheinlich ist mit der sog. gesunden Mischkost diese Ernährungsrichtlinie nicht zu verwirklichen.
Ziel einer ausgewogenen Ernährung sollte ein möglichst hoher Nährstoff- und niedriger Energiegehalt unserer Lebensmittel sein. Die Energiedichte eines Lebensmittels beschreibt den Energiegehalt in Kilokalorien pro verzehrter Menge in Gramm und wird in vielen Tabellen angegeben.
Seltener wird die Nährstoffdichte erwähnt. Vom Yale-Griffin Prevention Research Center wurde zudem ein Overall Nutritional Quality Index entwickelt, der auch als NuVal bekannt ist. Hier wird Brokkoli, Blaubeeren sowie Okra, Orangen und grünen Bohnen der Maximalwert von 100 zugewiesen und auch Rettich und Ananas schneiden mit 99 nahezu perfekt ab. Am unteren Ende dieser US-amerikanischen Skala befinden sich Lebensmittel wie Hot Dogs (5), Weißbrot (9) oder auch Milchschokolade15. Generell finden sich Fleisch, Eier und Backwaren im unteren Bereich, hingegen Gemüse und Obst, also pflanzliche Lebensmittel im oberen Drittel.
Die gesundheitlichen Argumente zusammengefasst:
- Tierische Nahrungsmittel sind entzündungsfördernd: Häm-Eisen; Neu5Cg (human Tumors); Arachidonsäure (Prostaglandine Typ 2)
- Bakteriell belastet und Endotoxine
- Mikrobiom verändert
- Kanzerogen: Benzpyren (Grillen), Nitrosamin, heterozyklische Amine, T-MAO (Trimethylamin-N-oxid)
- Massentierhaltung: Salmonellen, Zoonosen, Antibiotika
- Antioxidantien: 64 x mehr in Pflanzen im Vergleich zu tierischen Nahrungsmitteln
- Epidemiologisch: Lebenserwartung höher, weniger Herzkrankheiten und Krebs
- Wer das Thema vertiefen will, dem empfehle ich: Claus Leitzmann und Markus Keller „Vegetarische und vegane Ernährung“16.
Ich versuche in diesem Essay gesundheitliche und ökologische Argumente klar zu trennen. Sachlich gesehen ist das allerdings schwierig, weil die gesundheitlich nachteilige Wirkung tierischer Lebensmittel zum großen Teil durch ökologische Fehlentwicklungen verursacht wurde, insbesondere die Massentierhaltung als Brutstätte von Fäkalien und pathogenen Keimen, der Einsatz von Hormonen und nicht artgerechtem, billigem Futter wie z.B. Mais statt Grasfütterung, sowie den (wegen der Haltungsbedingungen notwendigen) begleitenden Medikamenten- und Antibiotikagebrauch (Substanzen, die vom Endverbraucher Mensch mitkonsumiert werden).
99 % aller konsumierten tierischen Produkte stammen aus Massentierhaltung.
Womit der Zusammenhang zum Folgepunkt angeschnitten wurde
Ökologische Argumente
Unsere gesellschaftlich übliche Lebensmittelproduktion und Art der Ernährung bringt etliche Umweltprobleme mit sich. Diese sind (unvollständige Aufzählung17)
- Schadstoffbelastung von Luft, Wasser, Böden und Lebensmitteln mit chemischen Substanzen
- Waldsterben und zunehmende Abholzung der Wälder
- Zerstörung der Ozonschicht
- Globaler Klimawandel
- Bodenzerstörung durch Erosion, Verdichtung, Versalzung, Versteppung und Verwüstung
- Artenschwund bei Pflanzen und Tieren
- Überfischung der Meere
- Ungelöste Probleme der Abfallentsorgung
Die globale Biomasse terrestrischer Wirbeltiere betrug vor wenigen Jahren prozentual: 32 % Menschen, 65 % Nutz- und Haustiere, 3 % Wildtiere, vgl. auch Yuval Harari.18
Rund 33 Prozent der weltweiten Anbauflächen werden für die Produktion von Viehfutter verwendet.
In der Europäischen Union liegt diese Zahl noch höher. Hier landen 60 % des angebauten Getreides in den Trögen. Dieses Verfahren ist äußerst ineffizient.
Die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch gibt in ihrem „Futtermittelreport“ an, dass Futtermittel je nach Tier- und Haltungsart in der Tiermast einen Anteil von 30 bis 66 % an den gesamten Erzeugungskosten haben. Am meisten fressen Rinder. Bis zu 10 Kilogramm Futter benötigen sie, um ein Kilogramm Fleisch zu produzieren.19
Ethische Argumente
Die großen monotheistischen Weltreligionen (Christentum, Judentum und Islam) sind anthropozentrisch und erhöhen die Stellung des Menschen, dem Gott nach ihrer Auffassung als einziger Spezies eine unsterbliche Seele geschenkt hat. Tiere und Umwelt sind dem Menschen zur freien Verfügung und Gutdünken überlassen, kein Träger von Rechten oder ‚jemand’, dem man moralisch verantwortlich wäre (Genesis 1, 28: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht). Deshalb ist jeglicher Ausbeutung und Missbrauch Tür und Tor geöffnet.
In den östlichen Religionen hingegen stößt man aufgrund des Konzeptes der Seelenwanderung (Reinkarnation) auf Regeln, die tierische Nahrung ablehnen. Ahimsa, das Prinzip des Nichtverletzens sowie der Güte und Rücksichtnahme gegenüber allen Kreaturen ist Bestandteil der Veden. Auch Buddhas Anliegen war es, das Leiden aller Lebewesen, einschließlich der Tiere, zu beenden.
In Europa begann sich der Vegetarismus im 18. bis 19. Jahrhundert zu entwickeln. Ein Vorläufer war
Leonardo da Vinci (1425-1519): „Es wird die Zeit kommen, in welcher wir das Essen von Tieren ebenso verurteilen, wie wir heute das Essen von unseresgleichen, die Menschenfresserei, verurteilen.“ George Bernard Shaw (1856-1950) sagte: „Tiere sind meine Freunde … und meine Freunde esse ich nicht.“
Schließlich Leo Tolstoi (1828-1910): „Solange es Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben.“
Die ethischen Argumente für Vegetarismus/Veganismus sind nicht einseitig rational heraus gearbeitet, sondern haben eine starke gefühlsmäßige Basis, die sich in Mitgefühl und Empathie begründen. Es ist einerseits der Blick auf die Leidensfähigkeit anderer Geschöpfe, der dahinter steht, andererseits die Hoffnung, dass sich ein gewaltfreier Umgang mit anderen Spezies zu einem friedlicheren Umgang unter den Menschen generalisiert.
Medizinische und ökologische Argumente pro oder kontra Vegetarismus/Veganismus sind aus meiner Sicht auf überprüfbaren Fakten basiert.
Die ethischen Argumente, warum man Tierleid minimieren oder verhindern sollte, fußen hingegen mehr auf Werten und Gefühlen. Das ist ihre Hauptschwäche, denn vielen Menschen ist herzlich egal, wie man mit Tieren oder der Umwelt umgeht. Andererseits glaube ich (ich kann es aber nicht beweisen), dass es diejenigen Argumente sind, die subjektiv am stärksten motivieren (zumindest bei mir ist das so).
Inzwischen ist Tierethik ein philosophisches Spezialgebiet. Philosophische Argumente rationaler Natur vertritt der australische Philosoph Peter Singer (geb. 1946), Vertreter des Utilitarismus, der Tier- und Bioethik. Seine Thesen sind umstritten und verursachten Proteste. Singer geht vom Gleichheitsgrundsatz aus.
Vor dem Gesetz sind alle Staatsbürger gleich (Artikel 7 der österreichischen Bundesverfassung) sagt natürlich nicht aus, dass alle Menschen real gleich sind (z.B. jung-alt, reich-arm, Frau-Mann, intelligent-dumm), sondern sieht eine Gleichbehandlung (vor dem Gesetz) vor.
In diesem Sinne vergleicht Singer Rassismus und Sexismus als Diskriminierung, wie Ungleichstellung von Weißen versus Nicht-Weißen bzw. Frau versus Mann, mit Diskriminierung der Tiere gegenüber der Spezies Mensch. Dafür prägte er den Begriff Speziesismus. Es geht also darum, „grundlegende Interessen“ der Tiere zu erwägen und zu berücksichtigen als eine Ausweitung der bisherigen Ethik.20 Das ist also der Schritt von Menschen – zu Tierrechten (Tom Regan21). Begründet wird das mit tierischem Bewusstsein, das sich in Gefühlen, Schmerzempfinden und Selbsterhaltungstrieb22 manifestiert. Die Bilanz wissenschaftlicher Untersuchungen lässt nur den Schluss zu, dass Tiere auch über Bewusstseinsfähigkeiten verfügen. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit hat sich umgekehrt. Nach heutigem Wissen ist es definitiv unwissenschaftlich Tieren Bewusstsein abzusprechen23, also sie so wie Rene Descartes als Automaten bzw. Maschinen zu klassifizieren.
Das Argument der „schreienden Karotten“. Wenn man keine Tiere isst, muss man sich auf Witze gefasst machen. So geschah es meiner Frau und mir, als uns bei Freunden ein Bohnengulasch mit Karotten serviert wurde und wir hörten „Weißt du, wie qualvoll die Karotten geschrien haben, als sie aus der Erde gerissen und ins kochende Wasser geworfen wurden!“
Erstaunlich ist, dass auch ein Philosoph Meyer-Abich ähnlich argumentiert: „Wenn man aber die den Tieren zuzuerkennenden Rechte, wie ich es tue, aus der Gleichberechtigung begründet, liegt es auf der Hand, dass nach demselben Prinzip auch Rechte der Pflanzen angenommen werden müssen … Der Vegetarismus kann keine Lösung sein, denn auch Pflanzen sind Lebewesen.“24 Wirklich? Haben Pflanzen eine ‚Leidensfähigkeit’?
Menschen sind Tiere, aber nicht Pflanzen (darauf gründet das Gleichheitsargument). Mit dieser Prämisse tun sich aber viele Menschen schwer, die im Homo sapiens lieber „das Ebenbild Gottes“25 sehen wollen oder etwas vom Tier grundsätzlich Verschiedenes, Höheres. Wir haben hier eine der drei Kränkungen26 vor uns, die der Mensch der Neuzeit nach Sigmund Freud erlitten hat.
Diesen Abschnitt möchte ich mit diesem bekannten Gedankenexperiment abschließen27:
„Stellen Sie sich vor: Aliens überfallen die Erde. Sie sind uns Menschen körperlich und geistig weit überlegen. Sie nehmen uns gefangen, lassen uns für sie arbeiten und pumpen den frisch gewordenen Müttern die Milch ab, um daraus leckere Drinks zu machen. Unsere Kinder werden gemästet, geschlachtet und genüsslich verspeist. Kurz: Die Aliens machen mit uns, was wir mit Tieren tun. Gilt das Recht des Klügeren? Ihr grausames Verhalten rechtfertigen sie damit, dass sie uns geistig überlegen sind und unser Menschenfleisch angeblich vorzüglich schmeckt. Für uns Menschen sind das wenig überzeugende Gründe, schließlich haben wir eigene Bedürfnisse …
Was würden Sie diesen Aliens sagen, um sie zu motivieren, von ihrem Vorgehen abzusehen?
Rechtliches
Rechtlich sind in Österreich Tierschutzgesetze Landessache. Das führt zu der unerfreulichen Situation, dass es neun Landesversionen gibt.
§353 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) legt fest, dass nur Sachen ein Eigentum sein können. §285 ABGB definiert: Alles, was von der Person unterschieden ist, und zum Gebrauche der Menschen dient, wird im rechtlichen Sinne eine Sache genannt. Bis zum 1.7.1988 waren Tiere also sog. Sachen“. Danach wurde der Paragraph § 285 des ABGB geschaffen. § 285a des ABGBD lautet: Tiere sind keine Sachen; sie werden durch besondere Gesetze geschützt. Die für Sachen geltenden Vorschriften sind auf Tiere nur insoweit anzuwenden, als keine abweichenden Regelungen bestehen.
Positive Aspekte und zukünftige Fragestellungen
Im Sinne einer ausgewogenen Darstellung sind aber auch positive Aspekte in unserer Analyse der Ernährungssituation des 21. Jahrhunderts anzuführen.
Jahrtausende lang haben Hunger und Unterernährung die Bevölkerung geschwächt und dezimiert. Das ist in den meisten Ländern und vor allem in Europa nunmehr Geschichte und auch arme Menschen müssen nicht mehr unter Hunger oder Essensentbehrung leiden. Die hauptsächlichen ernährungsbedingten Krankheiten, nämlich Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2, sind durch ein jahrelanges Überangebot an kalorien- und zuckerreicher Nahrung verursacht. Ein Problem hatte somit das andere abgelöst und das Pendel schlug in die Gegenrichtung aus.
Auch haben wir in Österreich seit 1945 andauernd Friedenszeit erlebt. Was hätte eine sinnvolle lebensverlängernde Ernährung denn für einen Effekt, wenn man wie unsere Vorfahren zu Millionen in den besten Jahren und vor der Zeit getötet wird?
Nicht zu vergessen ist auch, dass der Wohlstand in beiden Richtungen wirkt, denn er bringt die Möglichkeit mit sich, hochwertige Lebensmittel zu erwerben und auf unterschiedliche Weisen die eigene Gesundheit zu stärken. Ein konkretes Beispiel: Die Änderung landwirtschaftlicher Techniken hat generell zu einem erheblich veränderten Gehalt von Vitaminen und Spurenelementen in Obst und Gemüse geführt.
Es gibt viele drastische Veränderungen. Nehmen wir zum Beispiel Orangen. Sie können nur noch ein Achtel an Vitamin A bieten. Brokkoli kommt mit 80 % weniger Kupfer daher. Auch Weizen musste wesentlich zurückstecken. Wird der Zeitraum von 1842 bis in die Neuzeit betrachtet, verlor er die Hälfte an Mineralstoffen. Dem Biochemiker Donald Davis ist es ein Anliegen, den Nährstoffverlust zu untersuchen. Im Jahr 2004 verglich er deshalb Daten von 1950-1999. Im Mittelpunkt standen 13 verschiedene Nährstoffe, die in Obst und Gemüse enthalten sind. Dabei konnte er feststellen, dass Eisen, Phosphor, Calcium, Vitamin C und Vitamin B2 von einem Rückgang betroffen waren. Insgesamt betrug der Rückgang zwischen 6 und 38 %.28
Allerdings sind im Gegensatz zu 1950 jetzt 2024 für alle erdenklichen Nährstoffe auch Supplemente (korrekter als Nahrungsergänzungsmittel bezeichnet) in der Regel zu vernünftigen Preisen und ohne Rezept erhältlich. Das gibt den Konsumenten, sofern sie über das nötige Wissen verfügen, die Option, ihre Ernährung zu optimieren bzw. maßzuschneidern, also ihren Bedürfnissen anzupassen.
Damit wird der Vorwurf, dass vegane Ernährung gewisse Nährstoffmängel aufweise, hinfällig, wenn intelligent supplementiert wird. Nur als Randbemerkung: Gleich ob Omnivore oder Veganer, etwa 80 % der Bevölkerung weisen im Winter zu niedrige Vitamin D-Spiegel auf und sollten etwas dagegen unternehmen! Eine sinnvolle Supplementierung nach dem Wissensstand der orthomolekularen Medizin29 ist jedem zu empfehlen.
In anderen Bereichen am Entwicklungsstart muss sich hingegen erst weisen, ob die Entwicklung positiv oder negativ einzuschätzen sein wird. Das gilt für Fleisch aus Zellkulturen (bei denen kein Tierleid entsteht) oder die Richtung, Nahrungsmittel aus Insekten zu erzeugen.
Conflict of Interest?
Seit etwa zwanzig Jahren bin ich Vegetarier, mit einem zunehmenden Hang zum Veganismus.
Ich ziehe aus diesem Artikel keinerlei Vorteil oder finanziellen Gewinn. Im Gegenteil, Vegetarier/Veganer werden oft als seltsam, als Außenseiter oder Fanatiker angesehen.
Es werden auch gerne Witze über sie und ihr Verhalten gerissen. Beispiele:
- Veganer, die Menschen, die Kaninchen ihr Futter wegessen
- Kuh frisst Gras, ich fresse Kuh;
- Veganes Essen ist voll lecker. Man muss nur Hackfleisch und Schlagobers zugeben und das Ganze dann mit Käse überbacken.
- Ich bin Veganer, was kann ich in ihrem Restaurant bestellen? – Ein Taxi.
Ich antworte dann gelegentlich (sehr selten) mit einem anderen Witz – unverständlicherweise finden diese Gesprächspartner meine Witze nicht lustig.
Schlussworte des Autors
Wie alle Konzepte im Leben hat auch das Konzept Vegetarismus und Veganismus sein Für und sein Wider. Ich bringe Gesichtspunkte, die dafür sprechen, das Ernährungsverhalten in Richtung Vegetarismus/ Veganismus zu modifizieren.
Die Freiheit des Menschen ist ein Grundrecht und ein hohes Gut, daher habe ich hoffentlich keine Bekehrungsschrift oder rigoristisches Pamphlet verfasst, aber Ihnen als Leser gute Gründe genannt, um über die Thematik nachzudenken und gegebenenfalls ihre Ernährung zu modifizieren.
Sie entscheiden, aber Ihre Entscheidungen haben Folgen für Ihre Gesundheit, Ihre Umwelt und für Lebewesen, die möglicherweise nicht Ihre Intelligenz besitzen, Ihnen aber in ihrer Leidensfähigkeit in nichts nachstehen.
a.o. Univ.Prof. Dr. med. i. R. Johann Missliwetz
Facharzt für gerichtliche Medizin
Arzt für Psychotherapie
ÖÄK Orthomolekulare Medizin
_________________
1 Jonathan Safran Foer: Tiere essen. Verlag Kiepenheuer & Wietsch, Kön, 2009.
2 Wilderer wurden in der Regel gehängt.
4 Michael Pollan: Das Omnivorendilemma. Wie sich die Industrie der Lebensmittel bemächtigte und warum das Essen so kompliziert wurde. Goldmann Arkan 2011.
5 https://de.wikipedia.org/wiki/Steinzeitern%C3%A4hrung und ….
6 Loren Cordain: The Paleo Diet. New York 2002
7 Pollan ebda. Seite 401
8 Bärlauch und Maiglöckchen ähneln sich, aber Maiglöckchen sind giftig.
9 HFCS = high fructose corn syrup als billiger Zuckerersatz zur Süßung.
10 https://www.marktmeinungmensch.at/studien/statistiken-zu-vegetarismus-und-veganismus-in-oest/
12 Ein anderes Beispiel war das inzwischen verbotene Insektizid DDT: a) Boden spritzen, Regen wäscht ab, Seen und Flüsse = 0,000003 ppm (parts per million), b) Zooplankton 0,04 ppm, c) kleine Fische 0,5 ppm, d) Raubfisch (z.B. Forelle) 2 ppm, e) Spitze Nahrungskette (Fischadler, Angler) 25 ppm. Das bedeutet eine Konzentrierung e = a x 10 Millionen! An der Spitze der Nahrungskette steht Homo sapiens!
13 Z.B. https://www.5amtag.de/wissen/aus-der-wissenschaft/
15 https://www.bmi-rechner.net/artikel/naehrstoffdichte.htm
16 Ulmer UTB Verlag. 2020 vierte Auflage.
17 Nach Leitzmann und Keller
18 Yuval Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit.
20 Siehe Peter Singer: Praktische Ethik. Reclam 1984.
21 Tom Regan: Von Menschenrechten zu Tierrechten. Aus Tierethik. Grundlagentexte. Hrsg. Friederike Schmitz, Suhrkamp 2014.
22 Dazu bedarf es nicht großartiger Wissenschaft. Jeder Mensch kann dies bei seinem Haustier, zumeis Hund oder Katze, beobachten.
23 Marian Stamp Dawkin: Die Entdeckung des tierischen Bewusstseins. Rowohlt Verlag 1996.
24 Zitiert nach Helmut Kaplan: Leichenschmaus. Ethische Gründe für eine vegetarische Ernährung. Rororo Sachbuch 2002, Seite 171.
25 Für den christlichen Glauben ist der Mensch in erster Linie Gottes Geschöpf und sein Ebenbild. Gott hat den Menschen als sein Bild geschaffen, so erzählt es die Bibel (Gen 1,27). Nach https://www.ekd.de/Mensch-Basiswissen-Glauben-11234.htm
26 Drei Kränkungen nach Sigmund Freud: a) Biologisch: Der Mensch als Säugetier nach Charles Darwin; b) Kosmologisch: Die Erde nicht mehr im Mittelpunkt, sondern sie kreist um die Sonne; c) Psychologisch: Der mensch „nicht herr im eigenen Haus“, weil das Unbewusste, das meiste kontrolliert.
27 Vgl. auch Richard David Precht: Tiere denken. Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen. Goldmann 2016
28 https://www.foryouehealth.de/gesund-leben-blog/naehrstoffgehalt_in_lebensmitteln.html
29 Orthomolekulare Medizin (OM) beschäftigt sich mit Vitaminen, Spurenelementen, Mineralstoffen, Hormonen, Enzymen, Aminosäuren, Fettsäuren, toxischen Schwermetallen, dem Mikrobiom und weiteren, im Körper vorkommenden Substanzen.